Um die Ereignisse der letzten Tage in den USA zu verstehen, muss man kurz die Ausgangslage skizzieren. Diese war für Trump nicht günstig. Unternehmen und Bevölkerung sind besorgt wegen der Handelspolitik, der Präsident hat sich auf spektakuläre Weise mit Elon Musk überworfen, was unter Republikanern große Unsicherheit ausgelöst hat, es war unklar, ob Trump seine Steuergesetzgebung durch den Kongress bekommt und entgegen aller Versprechungen soll es jetzt doch erhebliche Kürzungen bei Krankenversicherungsschutz geben. Die Deportationen laufen aus Sicht der Regierung komplett unbefriedigend und sind weit unter den Zahlen der Biden-Regierung.
Wenn Trump in Schwierigkeiten gerät, verschiebt er gerne die Diskussion, um seine Dominanz wieder herzustellen und die Nachrichtenlage zu kontrollieren. Da kamen die Proteste in Los Angeles gegen das Vorgehen der Einwanderungsbehörde ICE gerade richtig
Es ist völlig unerheblich, dass die allermeisten Demonstranten friedlich waren oder dass von den Protesten nur ein ganz kleiner Teil von Los Angeles betroffen war. Wichtig ist, dass Fernsehbilder im ganzen Land und auf Social Media brennende Autos, geplünderte Geschäfte und Demonstranten, die in einer Hand eine mexikanische Fahne halten und mit der anderen Steine werfen, in Endlosschleife zeigen. Wichtig ist außerdem, dass all dies nicht nur in einem demokratisch regierten Bundesstaat passiert, sondern ausgerechnet in Kalifornien, der linksliberalen Bastion der USA, dem Bundesstaat der alles repräsentiert, was MAGA hasst.
Dass Trump erst die kalifornische Nationalgarde übernimmt und dann auch noch 700 Marines nach Los Angeles schickt, steht rechtlich auf wackligen Füßen, der Einsatz des Militärs im Innern z.B. ist durch den Posse Comitatus Act von 1878 im Prinzip verboten. Es gibt Ausnahmen, aber im Moment ist tatsächlich unklar, auf welcher Rechtsgrundlage Trump handelt. Den Insurrection Act hat er noch nicht ausgerufen (Hintergrund siehe unten stehenden Post). Dieser böte ihm die Möglichkeit, dem bisher nur zum Schutz von ICE und von Gebäuden eingesetzten Militär Aufgaben der Polizei wie Festnahmen, das Auflösen von Demonstrationen usw. zu übertragen.
Eine entsicherte Waffe in der Hand des Präsidenten
“Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.”, sagt Carl Schmitt. Donald Trump würde diesem Satz sicher uneingeschränkt zustimmen und hätte nur hinzuzufügen, dass er als Präsident über den Ausnahmezustand entscheidet und somit auch er, Donald Trump, und niemand sonst der Souverän sei.
Im Kampf um die Meinungsherrschaft spielt all das aber noch keine wesentliche Rolle. Trump und seinen medialen Helfern gelingt es bisher ganz wunderbar, die Proteste aufzubauschen und die Demokraten als impotente Partei der Gesetzlosigkeit darzustellen. Er und die Republikaner sorgen in diesem Narrativ für Ordnung und Sicherheit. Die Regierung setzt das Recht durch, sei es gegen illegale Einwanderung, sei es gegen linke Chaoten. Damit spricht er friedliebende Bürger ebenso an wie die Mehrheit der Bevölkerung, die laut einer neuesten Umfrage die Abschiebungspolitik der Regierung unterstützt. Im Atlantic ist zu lesen, wie erfreut das Weiße Haus über die Entwicklung der letzten Tage ist:
“We couldn’t have scripted this better,” said a senior White House aide granted anonymity to discuss internal conversations. “It’s like the 2024 election never ended: Trump is strong while Democrats are weak and defending the indefensible.”
Berücksichtigt man zusätzlich, dass das ganze Trump-Phänomen ausschließlich von Polarisierung, Konflikt und angeheizten Emotionen lebt, dass er mit einer sach- und lösungsorientierten “Normalpolitik” niemals reüssieren wird, weil er es gar nicht kann, wird klar, dass es sich aus Sicht von Trump um ein absolutes Gewinnerthema handelt. Er dominiert wieder die öffentliche Diskussion mit seinen Kernthemen und mobilisiert seine Basis. Über die Inflationsgefahr oder Medicaid redet im Moment niemand mehr. Trump und seine Regierung werden also weiter eskalieren, sobald sich die Gelegenheit bietet. Bisher sind sie mit diesem Kurs erfolgreich.
Das heißt nicht, dass es so bleiben muss. Gavin Newsom, der kalifornische Gouverneur hat mit einer bemerkenswerten, in den gesamten USA ausgestrahlten Fernsehansprache auf das Vorgehen von Trump reagiert (hier Video und Text), in der er Donald Trump frontal angreift. Newsom ist es gelungen, genau den richtigen Ton zu treffen und alle Amerikaner direkt darauf anzusprechen, dass die Verfassungsordnung der USA, das Erbe der verehrten Gründergeneration von Washington und Jefferson, in Gefahr ist, dass es jetzt um mehr geht als nur ein paar angezündete Autos. Es geht um die Demokratie. Diese Rede wird nachhallen
Wie geht es weiter? Alles offen, würde ich sagen. Die Proteste werden anhalten, einfach weil ICE unter massivem Druck steht, mehrere tausend Menschen pro Tag (!) abzuschieben. Es wird im ganzen Land zu hässlichen Szenen kommen, die sich über Social Media verbreiten und in deren Folge Proteste entstehen. Trump wird das nicht akzeptieren wollen und vermutlich weiter eskalieren. Dann kommt alles darauf an, wie die Demonstrationen konkret verlaufen, ob es Gegenproteste gibt und ob Trump das Militär auf die Bevölkerung loslässt. Hier dürfte auch der Erfolg der Militärparade am 14. Juni eine Rolle spielen. Ich glaube nicht, dass Trump größere Störungen gut aufnehmen würde. In einer aufgeheizten Atmosphäre könnten dann irgendwann irgendwo erste Schüsse fallen. In dem Moment hätte Trump die Dinge vermutlich zu weit getrieben und er müsste irgendwie einen Ausweg finden. Aber das ist schwer, wenn man wieder mal alles auf eine Karte setzt.