“Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.”, sagt Carl Schmitt. Donald Trump würde diesem Satz sicher uneingeschränkt zustimmen und hätte nur hinzuzufügen, dass er als Präsident über den Ausnahmezustand entscheidet und somit auch er, Donald Trump, und niemand sonst der Souverän sei.
Das stellt die tatsächliche amerikanische Verfassungsordnung natürlich auf den Kopf. Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist eine klare Absage an das monarchische System des Mutterlandes Großbritannien und stellt mit den Worten “We the People of the United States” gleich zu Beginn klar, von wem genau hier die Souveränität ausgeht. Trump und Schmitt liegen trotzdem nicht völlig falsch. Denn das politische System der USA gibt dem Präsidenten nicht nur generell eine ungemein starke Position, sondern auch das Recht, jederzeit einen Notfall, sprich Ausnahmezustand, auszurufen und aufgrund dessen zahlreiche Sonderbefugnisse auszuüben. Eine Reihe von Trumps Präsidialdekreten, so die Verhängung von Zöllen oder der Einsatz der US-Armee zur Unterstützung der normalen Grenzsicherung, tun genau das. Auch wenn es unterschiedliche Meinungen gibt, ob die angeordneten Maßnahmen rechtlich ausreichend abgesichert sind, ist das auch ganz normal. Alle Präsidenten nutzen das Instrument des nationalen Notfalls, oft bis an die Grenze des Zulässigen.
Eines der Notstandsgesetze ist allerdings besonders problematisch, der Insurrection Act, ein Gesetz, das ursprünglich von 1792 stammt und bis 1871 mehrfach überarbeitet wurde. Dieses Gesetz gibt dem Präsidenten das Recht, das ansonsten geltende Verbot, Streitkräfte gegen die eigene Bevölkerung einzusetzen, außer Kraft zu setzen. Auch von diesem Recht haben US-Präsidenten bereits öfters Gebrauch gemacht, zum Beispiel, um die Aufhebung der Rassentrennung an Schulen gegen Widerstand aus der weißen Bevölkerung durchzusetzen. Der letzte Anwendungsfall war 1992 im Zusammenhang mit den Unruhen in Los Angeles nach dem Freispruch jener Polizisten, die Rodney King zu Tode geprügelt hatten.
Was das Gesetz zu einer echten Gefahr macht, sind die windelweichen Bedingungen, unter denen es angewendet werden kann. Der erste mögliche Anwendungsfall, im §251, ein Bundesstaat bittet um Hilfe, geht noch. Das war die Grundlage für den Militäreinsatz bei den Ausschreitungen nach dem Rodney-King-Urteil. In den beiden nächsten Abschnitten wird es aber schwierig. Ich muss das jetzt leider zitieren, weil eine präzise Zusammenfassung zu umständlich wäre. Der nächste Paragraph (Hervorhebungen von mir) lautet:
Whenever the President considers that unlawful obstructions, combinations, or assemblages, or rebellion against the authority of the United States, make it impracticable to enforce the laws of the United States in any State by the ordinary course of judicial proceedings, he may call into Federal service such of the militia of any State, and use such of the armed forces, as he considers necessary to enforce those laws or to suppress the rebellion.
Und noch besser wird es im §253 (ich zitiere komplett, aber man kann zur Abkürzung einfach den von mir hervorgehobenen Teil lesen):
The President, by using the militia or the armed forces, or both, or by any other means, shall take such measures as he considers necessary to suppress, in a State, any insurrection, domestic violence, unlawful combination, or conspiracy, if it (1) so hinders the execution of the laws of that State, and of the United States within the State, that any part or class of its people is deprived of a right, privilege, immunity, or protection named in the Constitution and secured by law, and the constituted authorities of that State are unable, fail, or refuse to protect that right, privilege, or immunity, or to give that protection; or (2) opposes or obstructs the execution of the laws of the United States or impedes the course of justice under those laws.
Auf Deutsch und etwas abgekürzt: Wenn der Präsident - und sonst niemand, kein anderes Verfassungsorgan ist hieran irgendwie beteiligt - meint, es sei unpraktisch, die Gesetze auf die übliche Weise der Strafverfolgung durchzusetzen oder er es für notwendig hält, eine “Conspiracy” (d.i. im amerikanischen Recht die Verabredung zu einer Straftat), welche gegen die Gesetze der USA gerichtet ist, zu unterbinden, kann er die Nationalgarde, die US-Streitkräfte oder wen auch immer (z.B. eine rechte Miliz) damit beauftragen, die Rechtsordnung wieder herzustellen. Mehr noch, er kann dabei die Maßnahmen ergreifen, die er für richtig hält. Ganz richtig: vom Wortlaut des Gesetzes her sind das alle Maßnahmen, die er für richtig hält. Um ein Beispiel des Brennan Centers an der NYU etwas abzuändern, könnte der Präsident also ohne weiteres die 82. Fallschirmjägerdivision einsetzen, um zu verhindern, dass zwei Leute verabreden, morgen einen Ladendiebstahl zu begehen. Das ist das Gesetz.
WOW
DER PRÄSIDENT KANN MACHEN, WAS ER WILL
Es ist klar, dass eine solche Rechtsgrundlage einen besonders starken Reiz auf Donald Trump ausübt. In seiner ersten Amtszeit hat er auch bereits zweimal erwogen, den Insurrection Act einzusetzen. Das erste Mal im Sommer 2020 bei den Black-Lives-Matter-Protesten, die im Gegensatz zu Los Angeles 1992 weitestgehend friedlich verlaufen sind, und das zweite Mal nach seiner verlorenen Wahl im November desselben Jahres. Beide Male haben Verteidigungsministerium und die Führung der Streitkräfte klar gestellt, dass sie nicht zur Verfügung stünden, auf Amerikaner zu schießen. Diese Sicherung gibt es allerdings nicht mehr, jedenfalls nicht in der Person von Pete Hegseth. Und tatsächlich hat Trump bereits am ersten Tag seiner zweiten Amtszeit ein Präsidialdekret unterzeichnet, in dem er die Frage der Ausrufung des Insurrection Acts aufwirft:
Within 90 days of the date of this proclamation, the Secretary of Defense and the Secretary of Homeland Security shall submit a joint report to the President about the conditions at the southern border of the United States and any recommendations (…) including whether to invoke the Insurrection Act of 1807.
Diese 90 Tage sind Ende nächster Woche vorbei. Je nach “Empfehlung” (zwinker, zwinker) wird Trump dann den Ausnahmezustand aktivieren und die Streitkräfte zur Bekämpfung der Migration einsetzen.
Ist das das Ende der amerikanischen Demokratie? Nein, entgegen den Befürchtungen aufgeregter Kommentatoren auf Social Media ist es das nicht. Einmal, weil es wahrscheinlich nicht um den Einsatz nach innen geht, sondern um die Sicherung der Grenze gegenüber der irregulären Migration. Allerdings ist es möglich, dass Trump das Militär einsetzt, nicht um die Grenze zu sichern, sondern um das Landesinnere nach Migranten zu durchkämmen und diese unter unschönen Begleitumständen festzuhalten (“such measures as he considers necessary”). Zum zweiten aber, dürfte die amerikanische Demokratie deshalb halten, weil der Insurrection Act bzw. die Souveränitätstheorie Marke Donald Trump eine zwar manchmal schwammige, aber insgesamt nicht wegzudiskutierende Beschränkung haben, die bereits erwähnte US-Verfassung. Trump kann das Militär einsetzen, um Migranten zu verfolgen, Demonstrationen aufzulösen oder vermeintliche Straftäter festzunehmen, was er aber nicht kann, ist die Verfassung einschließlich der Zusatzartikel, in denen die Grundrechte der Amerikaner verankert sind, außer Kraft zu setzen. Kein Zweifel, dass er bereit wäre, das zu versuchen, aber es wird ihm nicht gelingen, denn an diesem Punkt ist es selbstverständlich wieder möglich, die Gerichte einzuschalten. Allerdings muss man auch hier eine Einschränkung vornehmen. In der amerikanischen Rechtstradition hält sich die Justiz oft zurück, eine Entscheidung des Präsidenten im Bereich der nationalen Sicherheit in Frage zu stellen, solange eine gewisse Plausibilität besteht. Trotzdem wird es es nicht auf Dauer möglich sein, die Verfassung einfach außer Kraft zu setzen.
Der Aspekt, der Trump wahrscheinlich am ehesten zögern lässt, liegt nicht im rechtlichen, sondern im politischen Bereich. Jeder Einsatz des Militärs nach innen führt zu Fernsehbildern und je nachdem, wie diese ausfallen, zu einer öffentlichen Reaktion. Streitkräfte sind darauf trainiert, einen militärischen Gegner mit einem möglichst überwältigenden Einsatz tödlicher Waffen auszuschalten. Der Gegner ist nicht durch die US-Verfassung geschützt und jede Bedrohung der eigenen Truppen wird durch massiven Gewalteinsatz beantwortet. So eine Ausbildung ist keine gute Voraussetzung, um in einem rein zivilen Umfeld Aufgaben der Polizei wahrzunehmen, vor allem dann, wenn Stresssituationen entstehen. Wie die jüngste Umkehr in der Zollpolitik zeigt, reagiert Trump durchaus sowohl auf die öffentliche Meinung wie politischen Druck. Entgegen landläufiger Meinung ist er bisher auch nicht bereit, einfach in den Zustand der Diktatur überzugehen. Der Einsatz von hochbewaffneten Berufskillern gegen wehrlose Zivilisten könnte sich unter diesen Umständen rasch als grandiose Fehlkalkulation herausstellen. In zehn Tagen wissen wir mehr.