TikTok und die Allmacht des Präsidenten
Ein wichtiger Schritt zur vorkonstitutionellen Monarchie
Die US-Regierung agiert seit Amtsantritt von Donald Trump in mindestens einem Fall auf Basis einer Verfassungsinterpretation, wonach der Präsident nach Belieben Gesetze außer Kraft setzen könne. So ein Satz müsste reichen, um alle Alarmglocken anzuwerfen. Davon kann aber keine Rede sein, außer einigen Verfassungsjuristen scheint sich selbst in den USA kaum jemand dafür zu interessieren, vermutlich weil die Materie weder einfach noch besonders eingängig ist. Ich will versuchen, den Kern so klar wie möglich wiederzugeben.
In den letzten Wochen der Biden-Regierung hat der Kongress mit breiter überparteilicher Mehrheit ein Gesetz beschlossen, wonach amerikanische Firmen der Video-Plattform TikTok keine Dienstleistungen mehr anbieten dürfen, solange TikTok nicht an nicht-chinesische Eigentümer verkauft worden ist. Gemeint sind Dienstleistungen wie die Bereitstellung von Cloudspeichern oder die Aufnahme von TikTok in die App-Stores von Apple und Google. Donald Trump selbst hat bis zum März 24 ein Verbot von TikTok in den USA gefordert, seine Meinung aber offenbar kurz nach einem Treffen mit Jeff Yass, einem Milliardär mit Anteilen an ByteDance, dem Mutterkonzern von TikTok, geändert. Das Gesetz des Kongresses sieht außerdem die Möglichkeit eines einmaligen 90-tägigen Aufschubs bzw. einer Unterbrechung vor, wenn in dieser Zeit ein Eigentümerwechsel erfolgt und der Präsident dies gegenüber dem Kongress bescheinigt, sonst nicht. Nach einer sofortigen Klage von ByteDance gegen das Gesetz hat das Oberste Gericht im Januar die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in einer 9:0-Entscheidung bestätigt. Am 19. Januar 2025 ist es damit in Kraft getreten. Kongress verbietet TikTok, Gesetz tritt in Kraft - soweit also alles klar.
Am 20. Januar hat Donald Trump sein Amt angetreten und noch am selben Tag ein Dekret zu TikTok erlassen. Dieses Dekret weist das Justizministerium an, die Verfolgung (enforcement) des Verbots für 75 Tage zu unterlassen, aber nicht um einen Verkauf zu ermöglichen, sondern - so das Dekret -, um dem Präsidenten Zeit zu geben, die außenpolitischen Implikationen des Gesetzes zu prüfen, schonmal ein glatter Verstoß gegen das Gesetz, dass einen Aufschub ausschließlich im Falle eines Verkaufs von TikTok vorsieht. Zusätzlich weist Trump das Justizministerium an, den betroffenen US-Firmen schriftlich zu versichern, dass ihnen keine Nachteile, also Bußgelder gemäß Gesetz, drohten, wenn sie in dieser Zeit ihre Dienstleistungen für TikTok erbringen. Das entsprechende Schreiben ist, wie man seit kurzem weiß, am 11. Februar versendet worden. Bereits am 20. Januar haben die Techfirmen nach nur wenigen Stunden Pause ihre bisherigen Dienstleistungen für TikTok wieder aufgenommen.
Die Verfassung der USA trägt dem Präsidenten auf, auf die Einhaltung der Gesetze zu achten. Er kann dabei Prioritäten setzen, also auf die Einhaltung mancher Gesetze stärker achten als die anderer, so wie es Trump derzeit mit den Einwanderungsregeln tut. Was eine Regierung aber nicht kann, ist das Recht de facto oder de iure komplett außer Kraft zu setzen, z.B. indem sie erklärt, überhaupt nicht mehr auf die Einhaltung eines Gesetzes zu achten oder - noch besser - prospektiven Straftätern verbindlich zu erklären, ihnen drohten trotz Zuwiderhandlung keine Konsequenzen. Nicht nur die Verfassung sagt das, es ist 1838 auch in einem Grundsatzurteil des Obersten Gerichts noch einmal sehr klar bekräftigt worden. Rechtlich ist die Lage also eigentlich völlig klar, und das wirft die Frage auf, was ist so eine Erklärung, auch wenn sie vom Justizministerium kommt, eigentlich wert? Denn für die Firmen folgt daraus, dass sie sich trotz aller Zusagen der Regierung nicht völlig darauf verlassen können, dass ein Gericht im Falle einer Klage von wem auch immer (dazu unten mehr) nicht saftige Bußgelder (wir reden von bis zu 850 Milliarden Dollar pro Firma) gegen sie verhängen kann. Ja, sogar die Trump-Regierung selbst könnte jederzeit beschließen, jetzt doch den Weg des Rechtsstaates zu gehen und das TikTok-Verbot aggressiv durchzusetzen.
Der Präsident hat das Dekret vom 20. Januar inzwischen zweimal verlängert. Wir sind jetzt also bei 225 Tagen, nicht 90, von einem Verkauf ist nichts zu sehen, und die Bestätigung gegenüber dem Kongress, dass ein solcher bevorstünde, hat ebenfalls nie stattgefunden.
Aber der eigentliche Twist ist erst am vergangenen Freitag bekannt geworden. An diesem Tag veröffentlicht die nimmermüde New York Times einen Artikel, in dem sie aus den Briefen zitiert bzw. diese gleich mit veröffentlicht, die das Justizministerium im Februar, und zusätzlich im April an Google, Apple, Oracle usw. versendet hat und mit denen die Sorgen der Techfirmen, die ich gerade angesprochen habe, offenbar beseitigt werden sollten. In diesen Schreiben heißt es wörtlich (Hervorhebungen von mir):
Article II of the United States Constitution vests in the President the responsibility over national security and the conduct of foreign policy. The President previously determined that an abrupt shutdown of the TikTok platform would interfere with the execution of the President’s constitutional duties (…). The Attorney General has concluded that the Protecting Americans from Foreign Adversary Controlled Applications Act (i.e. das TikTok Verbot) is properly read not to infringe upon such core Presidential national security and foreign affairs powers.
Auf dieser Grundlage, so heißt es im Schreiben weiter, hätte der jeweilige Adressat, also z.B. Apple, das Gesetz nicht gebrochen und sei auch nicht bußgeldpflichtig.
Ich weiß, man muss es sorgsam und mehrfach lesen. Was hier behauptet wird, ist dass der Präsident auf Grundlage seiner Kompetenz für Außenpolitik und nationale Sicherheit bestimmen kann, dass ein Gesetz diese Kompetenz verletzt und dass dieses Gesetz - entgegen allem Wortlaut - dann insoweit nicht gilt, als es diese Kernkompetenz verletzt, worüber wiederum der Präsident selbst entscheidet. Oder einfacher: der Präsident entscheidet, ob und an welche Gesetze er gebunden ist. Und infolgedessen kann er außerdem bestimmen, ob/inwieweit weitere Parteien - hier die Techfirmen - an ein ordnungsgemäß verabschiedetes Gesetz der Vereinigten Staaten gebunden sind. Es wird also nicht einfach nur die Strafverfolgung ausgesetzt, nein, Trump hat das ganze Gesetz außer Kraft gesetzt und die Techfirmen haben deshalb nicht einmal einen Rechtsbruch begangen, als sie TikTok ihre Dienstleistungen zur Verfügung gestellt haben. Der Rechtsprofessor Steve Vladeck weist darauf hin, dass dieses Recht, Gesetze partiell außer Kraft zu setzen, seit der Glorious Revolution von 1689 nicht einmal mehr der englischen Krone zur Verfügung stand. Donald Trump beansprucht also mehr Rechte, als der englische König zur Zeit der Amerikanischen Revolution besessen hat.

Rechtlich gesehen ist das Blödsinn, wie Vladeck und andere sofort nachweisen. Der Kongress beschließt die Gesetze, der Präsident muss sich daran halten. Trotzdem ist eine Konsequenz dieser Rechtsposition der Regierung schon mal klar. Den diversen US-Firmen reicht diese Selbstermächtigung des Präsidenten ganz offensichtlich, denn sie stellen - Gesetz hin oder her - ihre Angebote TikTok uneingeschränkt zur Verfügung. Mit anderen Worten, sie akzeptieren die Aussagen des Justizministeriums über die Allmacht des Präsidenten. Man muss also konstatieren, dass das angebliche Recht des Präsidenten, Gesetze außer Kraft zu setzen, von den relevanten Akteuren in diesem Falle anerkannt wird und als Grundlage von milliardenschweren Unternehmensentscheidungen dient.
TikTok ist bisher der einzige bekannte Fall, in dem die Regierung diese Macht beansprucht. Und ich bin mir nicht einmal ganz sicher, dass der Regierung ursprünglich klar war, was sie da tut. Trotzdem, wenn Trump damit durchkommt, wird es weitere Beispiele geben. Und es sieht nicht danach aus, dass ihn jemand daran hindert. Denn eine Klage ist nach dem amerikanischen Rechtssystem schwierig, weil dies einen direkten und konkreten Schaden der Kläger voraussetzt (das sog, “Standing”). Dieser ist aber weder bei Privatpersonen noch den betroffenen Firmen erkennbar. Tatsächlich profitieren die Amerikaner sogar, denn sie können TikTok nutzen, was immerhin die Hälfte der Bevölkerung tut. Und der unter republikanischer Kontrolle stehende Kongress verzichtet lieber auf seine Rechte, als Donald Trumps Zerstörung der Gewaltenteilung Einhalt zu gebieten. Der Schaden durch Trumps Vorgehen ist sehr, sehr abstrakt und betrifft Prinzipien, für sich die meisten AmerikanerInnen nur mäßig interessieren.
Unterm Strich kann man im Moment also nicht viel tun. Immerhin sind die Schreiben des Justizministeriums bekannt geworden, nicht aufgrund eines Lecks, sondern auf Basis des amerikanischen Informationsfreiheitsgesetzes. Die New York Times hat im Mai auf Herausgabe der Schreiben geklagt und diese erhalten. Soweit funktioniert der Rechtsstaat noch. In einer Diktatur wäre das nicht möglich gewesen. Und natürlich können sich die Mehrheitsverhältnisse im Kongress im November 2026 ändern. Die Chancen stehen sogar ausgesprochen gut. Hoffen wir, dass es bis dahin nicht zu spät ist.
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