Die USA sind diese Woche haarscharf an einer ernsten Verfassungskrise aka Ende des Rechtsstaates vorbeigeschrammt. Auslöser war die Ausrufung des Alien Enemies Acts (AEA) am vergangenen Samstag (mehr dazu hier) und die Entscheidung der Administration, die Deportationsflüge nach El Salvador trotz einer unmissverständlichen richterlichen Entscheidung nicht zurückzuholen (mehr hier). Der energischen Aufforderung von Richter Boasberg vom Montag, dies zu erklären sowie nähere Informationen zu den Flügen vorzulegen, ist das Department of Justice (DoJ) bisher nicht gefolgt, sondern beruft sich weiterhin auf den Geheimschutz in Fragen der nationalen Sicherheit. Auf der anderen Seite hat die Regierung nicht nur seit Samstag keine weiteren Abschiebungen auf Basis des AEA durchgeführt, sondern inzwischen auch klargestellt, dass sie den Gang der Justiz respektieren werden. Damit ist die Lage ein klein wenig entschärft.
Weil ein solcher Fall aber offensichtlich in der Luft liegt, will ich trotzdem die Frage aufwerfen, was passieren würde, wenn die Regierung sich offen weigerte, einem richterlichen Ge- oder Verbot hier oder in einem anderen Fall zu folgen.
Diese Frage besteht aus zwei Komponenten, eine juristische und - erheblich wichtiger - eine politische. Die juristische Komponente läuft auf die Frage hinaus, welche Möglichkeiten ein Bundesgericht in den USA hat, seine Urteile gegen Widerstand oder Verweigerung praktisch durchzusetzen. Der New Yorker und das Brennan Center for Justice der New York University Law School haben in einem Interview mit einem Verfassungsrechtler bzw. in einem Explainer vor einigen Wochen genau dieses Problem behandelt; beide Quellen stimmen inhaltlich überein, auch wenn sie im Ton voneinander abweichen (das Brennan Center hat deutlich mehr Zutrauen in die Möglichkeiten der Justiz), so dass für Informationszwecke einfach zusammenfasse, was die Juristen sagen.
Ein Gericht wird im Konfliktfall zunächst den Druck erhöhen, indem es von der betreffenden Gegenpartei, in unserem Beispiel der Regierung, in Schriftform und in eindeutiger Sprache verlangt, bis zu einem bestimmten Datum dem jeweiligen Gerichtsbeschluss in der und der Form Folge zu leisten. Wie in den USA üblich, erfolgt dieser Schritt öffentlich und das entsprechende Urteil würde im Internet veröffentlicht, d.h. das ganze Land würde mitbekommen, welche Auflagen der Regierung gemacht werden. Das ist der Schritt, den Richter Boasberg gerade geht, um genauere Informationen zu den Flügen zu erhalten.
Bringt das nicht den gewünschten Erfolg, würde das Gericht vermutlich den sog. “Contempt of Court” anwenden, d.h. es würde Sanktionen aussprechen wegen Missachtung des Gerichts. Ein Richter kann zum Beispiel für jeden Tag, an dem seine Anordnungen nicht befolgt werden, eine Gebühr in beliebiger Höhe verhängen. Das kann teuer werden und die Erwartung ist, dass die andere Partei ihre Kosten niedrig halten will. Er hat aber auch die Befugnis, das Strafrecht anzuwenden und eine Geld- oder als weitere Stufe der Eskalation sogar eine Haftstrafe gegen Vertreter der Regierung zu verhängen. In Betracht kämen hier jene Vertreter des DoJ, die vor Gericht auftreten oder ihnen vorgesetzt sind bzw. Beamte oder Führungspersonal jener Behörden, die die Gerichtsurteile ignorieren, etwa aus dem Department of Homeland Security. An diesem Punkt wird es allerdings in mehrfacher Weise schwierig. Denn der Richter ist für diese Fälle auf die Kooperation des DoJ angewiesen. Zum einen würde er den Fall zur weiteren strafrechtlichen Verfolgung an das DoJ überweisen, zum einen anderen müssten Sanktionen vom US Marshal Service vollstreckt werden, einer Behörde, die dem DoJ und damit der Gegenpartei untersteht. Wenn die Trump-Regierung bis zu diesem Punkt eskaliert hat, sich also zum offenen Bruch mit der Verfassung entschlossen hat, scheint es wenig realistisch, dass sie sich von ihren eigenen Beamten verhaften lassen würde. Und selbst wenn all dies wundersamerweise doch geschieht und ein Vertreter der Exekutive vor einer Haftstrafe stünde, hätte der Präsident zuletzt jederzeit die Möglichkeit, ganz legal eine Begnadigung auszusprechen und damit das ganze Verfahren im Nichts enden zu lassen.
Ein Gericht hat nicht(!) die Möglichkeit, den Fall an die nächsthöhere Ebene zu verweisen, wenn die Verliererpartei nicht in die Berufung geht. Trump könnte also das Urteil missachten, aber dennoch keine Berufung einlegen und es damit auf sich beruhen lassen. Jedenfalls theoretisch, denn das setzt voraus, dass Trump und seine Berater sich schlichtweg nicht mehr um die Verfassung kümmern und in die offene Diktatur übergehen. An diesem Punkt wäre sowieso alles verloren, wenn Volk oder Armee nicht rebellieren. Auf der anderen Seite könnten sie eine solche Entweder-oder-Situation vermeiden, mit allen zur Verfügung stehenden juristischen Mitteln arbeiten, jedes ungünstige Urteil in die höhere Ebene tragen und darauf hoffen, dass ein Gericht ihrer Argumentation ganz oder teilweise folgt.
Damit sind wir bereits bei der politischen Komponente. Die bisherige Strategie der Trump-Regierung im Umgang mit der Justiz ist nicht offene Missachtung. Die Strategie ist, sofern es zum Rechtsstreit kommt - und das ist praktisch bei allem, was die Regierung seit Januar tut, der Fall -, maximalen Druck auszuüben, sich gegenüber der Justiz bis zur Grenze der offenen Verweigerung unkooperativ zu zeigen, aber genau den letzten Schritt über diese Grenze nicht zu gehen. Die Ereignisse der vergangenen Woche illustrieren dieses Vorgehen perfekt. Ein solches Vorgehen missachtet grob die nicht kodifizierten Normen der USA, von denen das Gemeinwesen lebt, es führt dazu, dass das System einem nicht endenden Stresstest unterzogen wird und in Teilen dysfunktional wird, es untergräbt ganz gezielt das öffentliche Vertrauen in Verfassung und Institutionen, aber es ist nicht illegal.
Der Schritt in die Illegalität ist bei dieser Strategie gar nicht nötig, jedenfalls wahrscheinlich nicht. Die ganze Perspektive der Fragestellung, mit der dieser Post begonnen hat, ist falsch. Denn Trump und seine Leute haben, um ein Bild aus der bei MAGA-Intellektuellen beliebten römischen Antike zu verwenden, gar nicht vor, in einem dramatischen Akt den Rubikon zu überschreiten und die Republik zu beenden. Sie bauen stattdessen darauf, dass es ihnen gelingt, innerhalb des Systems nach und nach die Grenzen in ihrem Sinne zu verschieben, ohne in die offene Illegalität zu gehen. “In ihrem Sinne” heißt zunächst, dass sie sich inhaltlich bei Deportationen, Bürokratiezerschlagung usw. durchsetzen. Es heißt aber vor allem, dass die gelebte verfassungsmäßige Ordnung als Ganzes dezidiert weg von der Gewaltenteilung und hin zu einer Imperialen Präsidentschaft verschoben wird, der gegenüber die anderen Verfassungsgewalten keine unabhängige Position mehr haben. Nicht Caesar, sondern das scheinrepublikanische Prinzipat des Augustus ist das Leitbild.
Ob ihnen das gelingt, hängt von den beiden anderen Gewalten ab, dem Kongress und der Justiz, sowie natürlich der Reaktion der Zivilgesellschaft. Hier kann man noch kein Urteil fällen. Der republikanisch kontrollierte Kongress ist bisher ein Totalausfall. Republikaner im Kongress verzichten lieber auf ihre im ersten Teil der Verfassung garantierten Rechte als sich Trump entgegenzustellen. Vor den Midterms im November 2026 wird sich daran voraussichtlich nichts ändern und danach auch nur, wenn die Demokraten zumindest rudimentären Widerstandsgeist entwickeln. Dass ein 83-jähriger unabhängiger Senator die Stimme der Opposition ist, ist kein gutes Zeichen. Anders die Justiz, die sich bislang als beeindruckende Bastion des Rechtsstaates erweist. Noch ist allerdings kein Fall bis zum Obersten Gericht vorgedrungen. Dort könnte sich - aber muss nicht - das Bild ganz schnell ändern. Bleibt die Zivilgesellschaft. Die anfängliche Schockstarre hat sich gelegt, es gibt inzwischen eine Gegenreaktion, insbesondere im direkten Kontakt mit den Kongressabgordneten wie in Townhall-Meetings usw. Massendemonstrationen wie wir sie aus Israel, Georgien oder auch Deutschland kennen, bleiben hingegen aus. Dafür reicht es dann doch nicht. Hoffen wir, dass die Zwischenwahlen im Herbst 26 einen Erdrutschsieg der Demokraten bringen.