Dieser Blog scheut keine Kontroversen. Deshalb schreibe ich heute über Country-Musik. Country gilt als konservativ, fokussiert auf ein idealisiertes ländliches Amerika, auf traditionelle Familie und Vaterland. Wer Country hört, ist weiß, hat eine Waffensammlung, trägt Cowboyhut und Gürtelschnalle und hat sein Leben lang nur Republikaner gewählt.
Nun kenne ich mich nicht besonders gut aus, aber trotz dieser Klischees höre ich seit einigen Jahren recht gerne Country-Musik, vor allem aus dem Alt-Country-Bereich. Richtig ist ohne Zweifel, dass Country - ich verwende den Begriff in der weitestmöglichen Bedeutung - eine weiße Hautfarbe hat. Er ist aus der Volksmusik entstanden, die europäische Einwanderer im 19.Jahrhundert in die USA mitgebracht haben, was man ihm oft noch anhören kann. Im 20. Jahrhundert ist daraus dann die Musik geworden, die heute unter diesem Begriff läuft, aber nicht nur die Musik, sondern auch eine riesige Industrie, die sich um Nashville, Tennessee zentriert und von dort durchkommerzialisierte, seelenlose Produkte auf den Markt wirft, so wie in der gesamten Unterhaltungsindustrie.
Weiß stimmt also, aber Country gleich reaktionäre Mucke war schon immer ein Zerrbild. Komplett falsch ist es allerdings auch nicht. Country ist sozusagen oft genug nicht mehr als Retortenmusik mit Twang1 für rechte Republikaner. Und es kommt noch schlimmer. Neben der anspruchslosen und eher unpolitischen Country-Plörre für den Mainstream gibt es zusätzlich auch eine besonders hässliche Seite der Country-Musik, die aber nahtlos an den Kommerz anschließt. Hank Williams Jr. veröffentlichte 1988 z.B. ein Lied dazu, wie schön es gewesen wäre, wenn der Süden den Bürgerkrieg gewonnen hätte (If the South Woulda Won).
I'd make my Supreme Court down in Texas
And we wouldn't have no
Killers getting off free
If they were proven guilty
Then they would swing quickly
Instead of writing books and smiling on TV
Usw., von unerfreulichen Dingen wie Sklaverei hingegen kein Wort. Das ist eine erstaunliche Leerstelle, denn immerhin war die Beibehaltung des Eigentums an dunkelhäutigen Menschen der ganze Daseinszweck der Konföderation. Man kann nur vermuten, dass Williams Jr. nicht allzu viel Schlaf über dieser Frage verliert. Musikalisch ist der Song ein Beispiel für die besagte Retortenmusik und ich rate davon ab, ihn zu hören. Trotzdem hat er es mit seiner Law-and-Order-Attitüde unter die Top Ten der Country-Charts geschafft.
Anderes Beispiel. Aaron Lewis landet 2021 einen etwas weinerlichen Nr.-1-Hit mit Am I the Only One. Nicht ganz so platt wie Williams Jr., aber deutlich genug:
Am I the only one who can't take no more
Screamin’, “If you don’t like it there’s the fucking door”
This ain't the freedom we've been fightin' for
It was somethin' more, yeah, it was somethin' more
Am I the only one, willin' to fight
For my love of the red and white
And the blue, burnin' on the ground
Another statue comin' down in a town near you
Das Patriotismus- und Militär-gesättigte Video zeigt US-Amerikaner unterschiedlicher Hautfarbe. Aber mit den Statuen sind natürlich die Denkmäler für Südstaaten-Offiziere gemeint, also der Leute, die mit militärischer Gewalt für die Sklaverei gekämpft haben, aber unter Rechten jetzt irgendwie Teil einer Tradition geworden sind, auf die man angeblich stolz sein kann. Den üblichen Patriotismus-Szenen werden im Video Zeichen des kulturellen Niedergangs und der Anarchie gegenübergestellt, nicht zuletzt die Proteste der Black-Lives-Matter-Bewegung. Schwarze dürfen Soldaten sein, aber keine Bürger, vor allem dürfen sie nicht gegen die Tötung von George Floyd und so vielen anderen protestieren.
Ebenfalls ein Nr.-1-Hit war zwei Jahre später Try That In a Small Town von Jason Aldean. Der Titel ist musikalisch völlig einfallslos, seinen Erfolg verdankt er allein dem behaupteten Kontrast zwischen der heilen Welt einer amerikanischen Kleinstadt und der wüsten Gesetzlosigkeit der Großstadt, also ähnliche Motive wie bei Aaron Lewis und mit ähnlichen Bildern im Video unterlegt.
Cuss out a cop, spit in his face
Stomp on the flag and light it up
Yeah, ya think you're toughWell, try that in a small town
See how far ya make it down the road
Around here, we take care of our own
You cross that line, it won't take long
For you to find out, I recommend you don't
Try that in a small town
Der Song lebt von dem kaum verhüllten Wunsch nach Gewalt und Selbstjustiz, in diesem Fall gegen Kriminelle (gibt es nur in Großstädten), Vandalismus (ditto) und Demonstranten (linke Anarchos) sowie dem generellen Hass auf Großstädte und jene Amerikaner, die dort leben. Diese, sollte man wissen, wählen in der Regel nicht Republikaner, geschweige denn MAGA (18 der 20 größten Städte in den USA werden von Demokraten regiert). Aldean ist bekennender Anhänger von Trump.
Aber Country kann auch ganz, ganz anders sein. Hank Williams III., Sohn des oben genannten Hank Williams Jr., dokumentiert z.B. seinen beeindruckend breiten Drogenkonsum in einem Song, der in seiner Vitalität und seinem respektlosen Humor eine schallende Ohrfeige für die engen Small-Town-Werte ist, die Aldean verherrlicht. Beides Country, aber unterschiedlicher kaum vorstellbar.
Und wenn man ehrlich ist, ist Small-Town-America oft eben alles andere als eine intakte, ideale Gemeinschaft, sondern runtergewirtschaftet und kaputt. Ein Song, der den wirtschaftlichen Niedergang und Perspektivlosigkeit auf der einen Seite, nackte Gier auf der anderen Seite grandios einfängt, ist We Can't Make it Here von James McMurtry von 2005. Ein Auszug:
There's a Vietnam vet with a cardboard sign
Sitting there by the left turn line
The flag on his wheelchair flapping in the breeze
One leg missing and both hands freeNo one's paying much mind to him
The V.A. budget's just stretched so thin
And now there's more coming back from the Mideast war
We can't make it here anymore
Etwas weiter:
There's a high school girl with a bourgeois dream
Just like the pictures in the magazine
She found on the floor of the laundromat
A woman with kids can forget all thatIf she comes up pregnant what'll she do
Forget the career and forget about school
Can she live on faith? Live on hope?
High on Jesus or hooked on dope
When it's way too late to just say no
You can't make it here anymore
Obdachlose Veteranen, Perspektivlosigkeit, Opiate und Jesus. Für viele ist wohl eher das die Realität, nicht die in Slow Motion wehende Stars-and-Stripes-Fahne und heldenhafte Soldaten, die ihre glücklichen Bilderbuchfamilien in die Arme schließen, nachdem sie gerade erfolgreich die Freiheit verteidigt haben.
Eine Southern-Rock Band, die sich einerseits dezidiert zu einer Südstaatenidentität (The Southern Thing von 2001) bekennt und andererseits kompromisslos gegen Rassismus und Polizeigewalt antritt, sind die Drive-By Truckers. Schon das Cover ihres Albums “American Band” von 2016 würde bei unseren Vorzeige-Patrioten von oben Schnappatmung auslösen. Die Stars und Stripes auf Halbmast? In einem fahlen, beklemmenden und beinahe farblosen Licht? Die Bilder des Hurra-Patriotismus sehen anders aus, triumphierend, farbenprächtig, selbstbewusst. Dieses Bild drückt Zweifel und Unbehagen aus.
Auf dem Album ist der Protest-Song What it Means, darin z.B. folgende Zeilen:
And if you say it wasn't racial
When they shot him in his tracks
Well, I guess that means that you ain't black
It means that you ain't blackI mean Barack Obama won
And you can choose where to eat
But you don't see too many white kids
Lying bleeding on the streetIn some town in Missouri
But it could be anywhere
It could be right here on Ruth Street
In fact, it's happened here
Worum es geht, ist die epidemische Polizeigewalt als Ausdruck eines tiefverwurzelten gesellschaftlichen Rassismus. Hier wird nicht drumrum geredet, der Song ist eine - wie ich finde - beeindruckende Anklage mit den Mitteln des Country-Rock.
Ein letztes Beispiel. Jerry Joseph hat 2020 ein ganz sparsam instrumentiertes, düsteres Lied gemacht, das ebenfalls den Bürgerkrieg und die Statuen der “Südstaatenhelden” aufgreift, diesmal nur aus der entgegengesetzten Perspektive zu Williams oder Lewis. Joseph gelingt es, die tiefe Dunkelheit im Herzen der damaligen Südstaaten zu evozieren.
But they shine their light of righteousness upon my unclaimed darkest deeds
Pulling up my withered roots, poisoning my righteous seed
Jesus was a white man and he promised we could rule
So we burn his holy cross in honor, hang the negro and the fool
and Baby, I will rise again out on Highway 29
In the meantime, I'll join the Earth, bide my wicked sands of timeHey now baby I'm a dead confederate, 80 years I stood my ground
I ain't sorry, ain't regretting it, now they're trying to tear me down
Hey now baby I'm a dead confederate, rebel pride, a heart of stone
I ain't worried, I ain't sweating it, wish they'd just leave me alone
Also ja, es gibt die konservative und sogar reaktionäre bzw. rassistische Country-Musik. Und es gibt ganz viele Gegenbeispiele, die musikalisch übrigens meist auf einem deutlich höheren Niveau sind. Faszinierend finde ich, wie sich die tiefe Zerrissenheit der USA bis in die Verästelungen der zeitgenössischen Kultur fortsetzt. Country ist ein Teil der Unterhaltungsindustrie, also etwas Triviales. Trotzdem werden dort seit Jahrzehnten große Fragen behandelt. Was für ein Land sind die USA? Welche Geschichte haben sie? Wie soll man mit dieser Geschichte umgehen? Wer gehört dazu und wer nicht? Jeder der verlinkten Songs liefert Antworten auf zumindest einige dieser Fragen, allerdings ganz unterschiedliche.
Und was mich immer wieder auf’s neue beeindruckt, ist welch zentrales Thema für die amerikanische Seele der Platz der schwarzen Bevölkerung in der Gesellschaft der USA ist. Bei beiden Seiten hat man manchmal den Eindruck, als seien Bürgerkrieg, Jim-Crow-Zeit und Bürgerrechtsbewegung so lebendig wie in ihrer eigenen Zeit. Der Bürgerkrieg ist noch lange nicht vorbei, sein Ausgang noch lange nicht endgültig. Dieselben Schlachten werden immer wieder geschlagen. Von William Faulkner gibt es dazu das berühmte Bonmot:
The past is never dead. It’s not even past.
Wie wahr. Man sieht es an der Country-Musik.
Twang ist ein bestimmter Gitarrensound bzw. auch eine nasale Art des des Gesangs, der für Country typisch ist.