Noch nie haben die USA eine organisierte, schlagkräftige Opposition so sehr gebraucht wie heute. Was sie stattdessen bekommen ist eine Demokratische Partei, der es mit schlafwandlerischer Sicherheit gelingt, die Diskussion weg von der Trump-Regierung auf sich selbst zu lenken und die dann mit der Aufgabe, damit halbwegs kompetent umzugehen, überfordert ist.
Ein soeben erschienenes Buch belegt, dass Biden von Beginn seiner Präsidentschaft Ausfälle hatte und spätestens ab Anfang 2023 körperlich und kognitiv den Anforderungen des Präsidentenamtes insgesamt nicht mehr gewachsen war. Ich habe das Buch gelesen und glaube, dass es die Dinge zutreffend beschreibt.1 Folgt man der dortigen Darstellung, hatte Biden gute und schlechte Tage, aber die schlechten wurden immer häufiger. Er konnte sich nicht lange auf eine Aufgabe fokussieren. Er redete konfus und mäandernd. Er schien oft nicht die Situation zu verstehen, in der er sich gerade befand. Er erzählte im Minutenabstand die exakt gleichen Geschichten. Er wusste nicht, in welchen Jahren er Vizepräsident war. Er erkannte Leute nicht, mit denen er seit Jahren zusammenarbeitete. Bei einer Weihnachtsfeier im Weißen Haus sprach er so leise, dass ihn trotz Mikrofon niemand mehr verstehen konnte. Er hörte bei einer Spendenveranstaltung mitten in seiner Rede auf, fing an, Leuten die Hand zu schütteln, und setzte die Rede einige Minuten später unvermittelt fort. Er war auch bei zahlreichen Versuchen nicht in der Lage, zweiminütige Wahlkampfvideos aufzunehmen, ohne den Faden zu verlieren. Er war täglich nur noch wenige Stunden im Büro und hatte Nachmittags nach Möglichkeit keine Termine mehr. Bei Treffen redete er gerne mit sich selbst oder schloss die Augen für so lange, dass alle dachten, er sei eingeschlafen. Er war nicht mehr in der Lage, in freier Rede seine Politik argumentativ zu vertreten. Wenn er etwas sagen musste und sei es nur eine kurze Begrüßung, hat er es vom Teleprompter abgelesen. Und er war körperlich so schwach, dass viele Beobachter sich an die letzten Monate ihrer Mutter oder ihres Vaters erinnert fühlten. Es war schmerzhaft, Zeuge seiner Auftritte zu sein.
Komplett überraschend ist das alles nicht, denn trotz der Bemühungen, Bidens Zustand vor der Öffentlichkeit zu verbergen, sind im Laufe von 2023/24, schon vor der Debatte gegen Trump, immer wieder Nachrichten über seinen Zustand nach außen gedrungen. In der Demokratischen Partei war seine Verfassung ein offenes Geheimnis. Neu für die Öffentlichkeit sind neben zahlreichen Details vor allem die Brutalität und das Tempo des Verfalls.
Das ist der Mann, der nach dem Willen der Demokraten die USA und die Westliche Welt weitere vier Jahre führen sollte. Wie ist das möglich?
So etwas wird möglich durch Hybris und eine extreme Tribalisierung des Denkens. Biden selbst, seine Frau, Lady Macbeth aka Dr. Jill, und seine engste Umgebung waren der Meinung, nur er und indirekt natürlich auch sie könnten das Land retten. Biden wollte antreten, daran gibt es keinen Zweifel. Wie aber ausgerechnet der Personenkreis, der Biden am besten kannte und seinen Abbau täglich miterlebte, ihn darin noch bestärken konnte, ist in gewisser Weise unbegreiflich, aber genau das ist in einer Umgebung, die sich als eine Art Wagenburg begriffen hat, in der Loyalität über alles ging, passiert. Gleichzeitig haben sie erkannt, dass Bidens sichtliche Alterung zu einem immer größeren Problem für die WählerInnen wurde. Die Reaktion war aber nicht, ein offenes Gespräch mit ihm zu führen - Dr. Jill, das wäre Ihre Aufgabe gewesen -, sondern Joe Biden, soweit dies irgend ging, von der Öffentlichkeit abzuschirmen und zu versuchen, jede Berichterstattung über seinen Gesundheitszustand aggressiv zu unterbinden.2 Zweifel im Weißen Haus an der Fähigkeit des Präsidenten, sein Amt auszuüben, geschweige denn für eine weitere Amtszeit zu kandidieren, wurden rigoros unterdrückt. Besorgnisse innerhalb der Partei hat man auf Neider und parteiinterne Gegner zurückgeführt. Der Präsident wurde von schlechten Nachrichten zum Wahlkampf und seinen Chancen zu gewinnen, konsequent verschont. Biden glaubt bis heute, dass er in den Umfragen vorne lag und die Wahl gewonnen hätte.

In der Summe sieht das beschissen aus. Es macht wirklich den Eindruck, als hätte man die Öffentlichkeit systematisch über die Verfassung des Präsidenten bzw. Kandidaten getäuscht. War Biden denn überhaupt noch in der Lage, Informationen zu verarbeiten, einen politischen Kurs festzulegen und Entscheidungen zu treffen? Und wenn er es nicht war, wer hat eigentlich das Land regiert? Seine Frau? Sein Stabschef? Überhaupt irgend jemand? Kamala Harris war es jedenfalls nicht, die ist dem Präsidenten nur zufällig auf dem Flur begegnet. Was wäre im Falle einer ernsthaften sicherheitspolitischen Krise gewesen, wie 9/11 oder dem russischen Angriff auf die Ukraine? Und um wen, verdammt nochmal, geht es hier eigentlich, das Land oder um eine Handvoll von Personen, die nicht loslassen können? Sind all die schönen Worte über Dienst am Land und den Menschen Lüge? Sind die angeblich Guten am Ende gar nicht die Guten?
Das Biden-Lager mag gedacht haben, die hitzige Diskussion dieser Fragen durch Bekanntmachung seiner Krebsdiagnose abzuwürgen. Der Respekt gebietet es in dieser schwierigen Zeit blablabla. Dieser Schuß ging allerdings gewaltig nach hinten los. Die Fragen sind nur noch drängender geworden, denn so ein Krebs entsteht ja nun auch nicht von heute auf morgen. Seit wann genau wussten Biden und seine Frau also davon? Und wie kann das Weiße Haus ganz offiziell behaupten, laut ärztlicher Begutachtung sei der Kandidat fit wie ein Turnschuh, wenn der Krebs längst in den Knochen angekommen ist?
Für die Demokraten ist all dies ein komplettes Desaster, aber eines, das sehr, sehr vorhersehbar war. Wollten die echt einen Tattergreis in das Präsidentenamt bringen? Ja, es scheint so. Und haben sie im Ernst geglaubt, man könne vier Jahre lang einen Präsidenten verbergen, der keine drei Sätze unfallfrei über die Lippen bringt? Man fragt sich, aber ja, so war es wohl. Warum haben sie jahrelang behauptet, alles sei in bester Ordnung, wenn sie doch wussten, dass das nicht stimmt. Warum sind sie erst aufgestanden, als nun wirklich gar nichts mehr zu leugnen war, aber es plötzlich auch um die eigenen Wahlchancen ging? Sind Partei und Karriere doch wichtiger als das Land? Was kann man ihnen denn überhaupt noch glauben? Dass jetzt diese Fragen diskutiert werden und nicht Trumps Angriffe auf die amerikanische Verfassung, ist wirklich schlecht, aber die Demokraten haben es sich ganz und gar selbst zuzuschreiben. Jetzt auf Basis desselben Tribalismus, der die Partei in genau diese Situation gebracht hat, auf die Buchautoren einzudreschen zeigt, wie wenig manche in und außerhalb der Partei begriffen haben.3
Von dem Schaden dürften auch nahezu alle der möglichen Präsidentschaftskandidaten der Demokraten betroffen sein, nicht nur allgemein, sondern konkret. Harris war die Vizepräsidentin. Buttigieg hat dem Kabinett Biden angehört. Newsom, Whitmer und Pritzker waren nicht bereit, Biden herauszufordern, obwohl man sie gefragt hat. Beshear und Shapiro haben Biden direkt erlebt und wussten genau, was los war usw. usw. Jeder von ihnen muss sich in Zukunft unbequemen Fragen über ihre/seine Ehrlichkeit und Integrität stellen.
Wenn dieser Vorgang eines zeigt, dann ist es die Gefahr, die für ein Gemeinwesen von einem radikal parteipolitischen Denken ausgeht, einem Denken, das dem eigenen Kandidaten, der eigenen Gruppe, der eigenen Partei alles andere unterordnet. Und natürlich kommt dann immer noch ein Spritzer Karrierismus dazu. Das ist nicht auf die USA beschränkt, das kennen wir auch. Die Verantwortung für das Land rückt in ganz weite Ferne, stattdessen übernimmt der Krieg gegen inner- und außerparteiliche Feinde alles. Die Truppen rücken zusammen und lassen keinen Zweifel mehr zu. Bei Trump ist dieses Politikverständnis nochmal ins Extreme und schon Kriminelle gesteigert. Dieser Politikstil ist destruktiv und überholt, er hat keine Berechtigung. Wir müssen mehr von unseren Politikern, aber auch von uns selbst erwarten. Das heißt aber auch, egal, wo wir stehen, dass wir vor allem in unserem eigenen Lager ein solches Denken und Verhalten nicht dulden dürfen. Das Land geht vor. Genau an diesem Punkt haben die Demokraten leider eklatant versagt.
Lohnend außerdem das Interview, das Ezra Klein von der New York Times mit dem Autor Jake Tapper geführt hat, hier als Giftlink.
Warum hat er dann an der Fernseh-Debatte teilgenommen, die dann zu seinem Rückzug geführt hat? Nun, die Debatte war eine Flucht nach vorne, nachdem kurz zuvor der Bericht eines vom Justizministerium eingesetzten Sonderermittlers ergeben hatte, dass auch Biden geheime Unterlagen aus seiner Zeit als Vizepräsident mit nach Hause genommen hatte, man aber - und jetzt kommt’s - auf eine Anklage verzichte, weil Biden aus Altersgründen nur noch begrenzt zurechnungsfähig sei. Unter diesen Umständen musste das Biden-Team alles auf eine Karte setzen und hat verloren.
Das geht übrigens weit über die Demokratische Partei hinaus. Sieht man sich die Amazon-Rezensionen zu dem Buch an, wird deutlich, dass viele auf der Linken gerne in ein krasses “Whataboutism” wechseln, wenn Kritik an der eigenen Seite geübt wird.