Ein Begriff, der seit dem Amtsantritt von Donald Trump umherschwirrt, ist “Faschismus”. Mein Eindruck, vor allem links denkende Europäer verwenden diesen Begriff gerne und oft, aber es gibt auch prominente US-Vertreter wie Masha Gessen, Timothy Snyder oder Ezra Klein, die ihn verwenden oder mit Bildern arbeiten, die ihn nahelegen. Ich selbst verwende diesen Begriff nicht, wenn um die USA von heute geht. Das hat mehrere Gründe, unter anderem den, dass meist unklar ist, wer genau “faschistisch” sein soll. Ist es Donald Trump? Die Regierung? Die Republikanische Partei? Die MAGA-Bewegung. Das politische System? Oder sind es die ganzen USA, politisch wie gesellschaftlich? Dass der Begriff, vor allem auf Social Media, inzwischen mehr ultimative moralische Verurteilung als analytische Kategorie ist, erhöht mein Unbehagen nur noch weiter.
Offensichtlich ist allerdings, dass Donald Trump in Wort und Tat massive autoritäre Tendenzen aufweist, dass er die Republikanische Partei dominiert und dass es keinen Regierungsvertreter gibt, der bereit ist, auch nur den geringsten Dissens zu zeigen. Im Gegenteil, wir erleben Selbstverrat, Feigheit und Arschkriecherei auf atemberaubenden Niveau.
Um der Frage nachzugehen, ob die USA auf dem Weg in den Faschismus sind, schlage ich eine simple intellektuelle Strategie vor. Statt mit dem Faschismus-Begriff (dessen Gehalt eh geklärt werden müsste) zu operieren, möchte ich eine einfachere Frage stellen: Was wären mit Blick auf die USA die konkreten Kriterien, anhand derer wir sagen können, dass die USA zu einem autoritär regierten Staat geworden oder auf dem Weg dahin sind?1 Ein autoritär regiertes Land verstehe ich als ein solches, in dem die politische Willensbildung von einer exekutiven Spitze erfolgt, ohne dass andere institutionelle, politische oder gesellschaftliche Gruppen noch eine Mitsprache haben und in dem die Ausübung elementarer politischer Rechte durch die Bevölkerung letztlich mit Gewalt verhindert wird. Die UdSSR war ein solches Land, Chile unter Pinochet war es und das heutige Saudi-Arabien ist es.
Diese Umformulierung ist m.E. mit keinem analytischen Verlust verbunden. Wenn die USA faschistisch sind, dann sind sie ganz sicher auch ein autoritär regiertes Land, das eine Konzept ist in dem anderen enthalten. Das bedeutet umgekehrt, wenn die Kriterien für ein autoritär regiertes Land nicht erfüllt sind, können die USA auch kein Land im Faschismus sein. Wenn wir die Frage so stellen, kommen wir aber ganz von selbst weg von großen, aufgeladenen Begriffen und Erzählungen hin zu handfesten Bedingungen auf Basis der Verfassung und des politischen Systems der USA, also zu konkreter Evidenz, anhand derer wir die Frage entscheiden bzw. immer wieder neu bewerten können. Ich habe in aufsteigender Reihe sieben solcher Kriterien formuliert, die ich zur Diskussion stellen möchte.
Trump zieht seine Politik ohne jede Rücksicht durch. Streng genommen sind wir damit noch nicht im Bereich einer autoritären Politik außerhalb der Verfassung, denn die Rechte des Präsidenten gehen weit. Wir sind aber auf dem Weg dahin, wenn es POTUS schlicht egal wird, was Parteifreunde und WählerInnen denken und sagen, denn es zeigt, dass er seine Politik nicht mehr an die Zustimmung der Gesellschaft bindet, sondern sich von deren Wünschen abkapselt und seine Maßnahmen einfach oktroyiert. Im Nationalsozialismus waren das beispielsweise Aufrüstung, Krieg und die physische Vernichtung bestimmter Gruppen. Bei Trump war es eindeutig die Zollpolitik - allerdings nur, bis er gemerkt hat, dass er die Zustimmung selbst seiner eigenen Wählerschaft verliert. Seitdem korrigiert er seinen Kurs wieder. Bei anderen Themen scheint es im Moment ähnlich zu laufen.
Trump setzt sich über die Justiz hinweg. Die US-Verfassung kennt drei Gewalten: das aus zwei Kammern bestehende Parlament, den Präsidenten und die Justiz. Aufgabe der Justiz ist es, im Streitfall zu entscheiden, ob etwas dem Recht (Gesetze bzw. Verfassung) entspricht oder nicht. Die anderen beiden Gewalten haben sich hieran zu halten. Insgesamt scheint die Trump-Regierung Gerichtsurteile zu respektieren, nicht in Worten aber in Taten. In mindestens zwei Fällen ist das allerdings nicht passiert, nämlich in der mutmaßlichen Verweigerung einer richterlichen Anordnung, Flugzeuge mit angeblichen Mitgliedern der venezolanischen Drogenbande Tren de Aragua umkehren zu lassen (Begründung, es sei zu spät gewesen), sowie der ganz offenen Weigerung, den irrtümlich nach El Salvador verbrachten Albrego Garcia zurückzuholen. Beide Fälle befinden sich weiterhin vor Gericht. Im zweiten Fall hat das Oberste Gericht in einer 9:0 Entscheidung angewiesen, die Rückkehr von Albrego Garcia “zu ermöglichen”. Im Kontext des ersten Falles (Hintergründe hier) hat es in einer 7:2-Entscheidung um ein Uhr nachts verfügt, dass keine Personen mehr abgeschoben werden dürfen, wenn diese nicht vollen Zugang zu allen Rechtsmitteln erhalten haben. Seitdem sind wir in einem angespannten Wartezustand. Die Trump-Regierung scheint den offenen Konflikt mit dem Obersten Gericht vermeiden zu wollen, will aber auch nicht ihre Entscheidungen revidieren. Weitere Abschiebungen von Venezolanern scheint es aber nicht gegeben zu haben.
Trump setzt sich über Widerstand des Kongresses hinweg. Das ist im Moment nur eine hypothetische Bedingung. Beide Kammern des Kongresses haben sich, wenn in Einzelfällen auch murrend, Trump ausgeliefert. Zudem regiert Trump nicht auf übliche Weise, indem er mit dem Kongress zusammenarbeitet, um Gesetze zu verabschieden, sondern ausschließlich per Dekret. Im Grunde gibt es derzeit keinen aktiven Kongress, und das wird sich bis zu den Midterms vermutlich auch nicht mehr ändern. Danach wäre ein Konflikt möglich, denn natürlich kann der Kongress von sich aus Gesetze verabschieden. Trump könnte dann ein Veto einlegen, und dann bräuchte es eine 2/3-Mehrheit, also voraussichtlich mehrere Republikaner um das Veto zu überstimmen. Das ist schwer vorstellbar, aber möglich, z.B. bei der Verabschiedung des Haushaltes. Unterm Strich entfällt dieses Kriterium faktisch, weil es aufgrund der Selbstaufgabe des Kongresses keine Anzeichen gibt, dass Trump hier eine rote Linie überschreiten müsste.
Trump versucht, die Unabhängigkeit der Bundesstaaten einzuschränken oder abzuschaffen. Trump kann nicht Diktator sein, solange es unabhängige Bundesstaaten gibt, seien es republikanisch (Florida, Texas etc.) oder demokratisch (Kalifornien, Michigan etc.) regierte. Dies ist deshalb eine der wichtigsten Bedingungen. Bisher gibt es keine Anzeichen, dass er in die Rechte der Bundesstaaten (alles, was in der Verfassung nicht ausdrücklich einer der drei Gewalten zugewiesen ist, siehe auch den 10. Verfassungszusatz) eingreift oder dies vor hätte.
Trump versucht, die sog. Bill of Rights, insbesondere den ersten Zusatzartikel außer Kraft zu setzen. Dieser garantiert Religions-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Hierfür gibt es bisher kaum Evidenz, wenngleich der Versuch, Universitäten mit dem Entzug von Fördergeldern unter Druck zu setzen, in diese Richtung geht. Das entschlossene Nein der Harvard University scheint vorerst aber ebenfalls zu einem Rückzieher der Regierung geführt zu haben. Für eine flächendeckende Einschränkung des ersten Zusatzartikels in der Breite der Bevölkerung gibt es bisher keine Anzeichen.
Trump lässt keine freien Wahlen mehr zu. Werden wir bei den Midterms sehen und spätestens bei der nächsten Präsidentenwahl. Wahlen, die seit Trumps Amtsantritt stattgefunden haben, darunter die wichtige Wahl für das Oberste Gericht von Wisconsin, sind regulär verlaufen. Bisher also ebenfalls keine Anzeichen.
Trump verfügt über die Möglichkeit, im eigenen Interesse flächendeckend und massiv Gewalt nach innen einzusetzen. Natürlich ist Trump Oberbefehlshaber der Streitkräfte und kann außerdem unter bestimmten Bedingungen die den Bundesstaaten zugeordnete Nationalgarde übernehmen. Ich würde es trotzdem als offene Frage ansehen, auf wieviel Unterstützung er im Ernstfall bewaffneter Auseinandersetzungen tatsächlich rechnen kann, weil das einfach zu sehr vom konkreten Szenario (gewaltfreie Großdemonstrationen, Aufstände, Sezession von Bundesstaaten, Bürgerkrieg) abhängig ist. 2020 hat sich die Armee schlicht geweigert, auf die Teilnehmer der BLM-Proteste zu schießen. Er verfügt über keine ihm persönlich ergebene SA (nein, die rechtsextremen Milizen sind nicht einmal annäherungsweise dasselbe), ist nicht der Vertreter eines reaktionären Offizierskorps (wie Franco oder Pinochet) und wird auch keinen Pakt mit der US-Army schließen, wie Hitler es unter völlig anderen Umständen mit der Wehrmacht getan hat. Der 6. Januar 2021 hat gezeigt, das ein einfacher Aufruf an seine Unterstützer bei weitem nicht reicht, um das System zu kippen, dazu braucht es einfach mehr. Eine theoretische Möglichkeit wäre, eine nationalstaatliche paramilitärische Einheit als Repressionsinstrument einzurichten, die dem Weißen Haus zugeordnet ist. Hierfür bräuchte er allerdings den Kongress sowie Zeit. Insgesamt sehe ich im Moment kein realistisches Szenario, in dem diese Bedingung eine Rolle spielen würde.
Stand heute und auf Basis dieser Kriterien sind die USA weit davon entfernt, in ein autoritäres System geschweige denn Faschismus abzugleiten. Das heißt nicht, dass die Trump-Regierung nicht Grenzen überschreitet und insbesondere bei Deportationen eindeutig das Recht bricht. Das tut sie, aber das System, und um das geht es hier, ist grosso modo resilient. Diese Resilienz wird in der deutschen Diskussion viel zu sehr unterschätzt. Trump kann nicht einfach durchregieren. Ja, die Dinge können sich ändern. Und natürlich richtet er immensen, teils katastrophalen Schaden an, wirtschaftlich und am meisten in der Außen- und Sicherheitspolitik. Dennoch sieht die Amtszeit von 47 immer mehr aus wie die von 45, Frappierende Inkompetenz, unablässiges Eigenlob und kaum Ergebnisse. Meine Prognose ist, dass die US-Demokratie auch die zweite Amtszeit von Trump insgesamt intakt überstehen wird.
Ich stelle die Frage also mit Blick auf das politische System, nicht auf Personen oder Parteien etc.